Aaron war auch im Supermarkt. Ich hatte ihn schon zwischen den Regalen herumspringen sehen und als er mich aus der Ferne erkannte, versteckte er sich eilig hinter einer Regal-Ecke, an der ich wohl demnächst vorbei musste. Aaron ist ein Junge aus der Nachbarschaft. Er ist fast sieben Jahre alt und besucht das erste Schuljahr der Grundschule. Vor einigen Monaten wurde ich von seiner Mutter angesprochen, die von meiner Tätigkeit als Dyskalkulietrainer wusste. Sie zeigte mir eine Klassenarbeit. Es ging um einfache Additions- und Subtraktionsaufgaben im Bereich bis 20. Bis auf zwei Ausnahmen war keine Aufgabe richtig gelöst und Aarons Resultate wichen konsequent um eins von der gesuchten Lösung ab. – Ein typisches Symptom für Kinder, die zählend ihre Ergebnisse ermitteln und beim Zählen bereits die Ausgangszahl mitzählen. 5 plus 3 ermitteln sie in drei Zählschritten „Fünf, Sechs, Sieben“, wobei sie die letztgenannte Zahl als Ergebnis mutmaßen, also Sieben (Anm.: 5+3 ist im Übrigen 8).
Jetzt aber näherte ich mich der Ecke und Aaron sprang hervor, laut „Buh!“ rufend. Ich erschreckte mich für ihn höflich und er freute sich mächtig. Ein zweites „Buh!“ von hinten erschreckte mich tatsächlich. Es war seine Mutter, die sofort ansetzte: „Jetzt kann er es. Er rechnet jetzt alles richtig!“. „Ja!“, fügte Aaron hinzu, „Ich weiß jetzt genau wie ihr Erwachsenen rechnet!“. Ich war überrascht. Rechnen wir Erwachsenen anders? Das machte mich stutzig und ich stellte mich dumm. „Wie rechnen wir denn?“ „Du müsstest das doch wissen“, sagte Aaron frech, „Wenn ihr 5+3 hinschreibt, dann meint ihr eigentlich 6+3. Siehst du: ” – er holte sein Zählwerkzeug, die Finger hervor – „Sechs plus Drei: Sechs, Sieben, Acht. Bei 5+3 muss ich also 8 als Ergebnis hinschreiben, das Ergebnis von 6+3.“
Aaron rechnete oder zählte demnach keineswegs richtig. Er hat seine alte Rechenweise, das Zählen inklusive der Ausgangszahl beibehalten. Da dies ihm aber keine Erfolge bescherte, erfand er eine Fehlerkompensation und benutzt sie nun fleißig. Kein Außenstehender merkt jetzt mehr sein Missverständnis bezüglich des Zählens, denn selbst wenn er es mit Fingern vorführt und laut ausspricht, erscheint alles in Ordnung, solange Aaron nicht erwähnt, dass er zunächst zu der 5 heimlich eine Zahl weiterzählt. Noch so gewiefte standardisierte Tests, die fast alle quantitativ ausgerichtet sind, können diese Fehlleistung entlarven.
Manch einer mag sagen, das mache doch nichts, solange das Ergebnis richtig sei. Rechnen ist aber keineswegs das bloße Erzeugen von Ergebnissen. Mathematische Terme repräsentieren eine Handlung mit Mengen – zumindest in der Grundschule noch. 5+3 bedeutet, dass einer Menge von fünf Elementen drei weitere hinzugefügt werden. Zum Beispiel: “5 Kinder spielen auf dem Spielplatz. Sie rufen drei weitere hinzu, die gerne mitspielen wollten.” Eine Adaption auf die von Aaron benutze Strategie, statt dessen 6+3 zu rechnen ergibt keinerlei Sinn. Solche Missverständnisse der Arithmetik sollten frühzeitig ausgemerzt werden, bevor sie sich als Kompensationsstrategie im Kopf verankern und dann nur noch schwer herauszulösen sind.
Aber wie erkennt man so etwas? Das Studieren alter Klassenarbeiten, die Befragung der Eltern oder das reine Vorführen würde Aarons Missverständnis nicht zutage treten lassen. Erst eine ausführliche qualitative Diagnose, in der jeder einzelne Kompetenzschritt der Mathematik in einem Interview mit dem Kind abgeklopft wird, wird seine kompensierende Rechenweise offen legen. Ich erstelle daher in die AFS-Diagnose des EÖDL, noch vor Ausfüllen der Fragen zu den symptomatischen Auffälligkeiten, eine detaillierte qualitative förderdiagnostische Untersuchung, mit der ich den Ansatzpunkt für das Training herauskristallisieren und den Lehrern einen genauen Bericht über die mathematische Kompetenz des jeweiligen Kindes darlegen kann.