Bei der diesjährigen Fachtagung des EÖDL (2022 in Pörtschach am Wörthersee) kam es nur sehr kurz und nur für die sehr aufmerksamen Zuhörer zu einer knappen Stellungnahme von der Bühne bezüglich der Begrifflichkeiten „Dyskalkulietherapie / Dyskalkulietraining“. Es war eigentlich nur eine beiläufige Anmerkung und ich fürchte, dass sie der dahinterstehenden Problematik nicht voll gerecht wurde. Verständlich war, dass in Österreich der Begriff „Therapie“ nur für medizinische Interventionen zulässig ist und daher dort für die Legasthenie und Dyskalkulie nicht genutzt werden darf. – Basta – Andererseits möchte ich aber nicht zurückweisen, dass die Arbeit eines Legasthenie- oder Dyskalkulietrainers doch eine gute Portion einer (Lern-)Therapie beinhaltet und als solche auch, zumindest in Deutschland, angesehen wird. Das hat Folgen: Ich persönlich habe erst neulich wieder die Erfahrung machen dürfen, welche Auswirkungen und Nachteile es hat, wenn man sich hier in Deutschland „Dyskalkulietrainer“, anstatt „Dyskalkulietherapeut“ betitelt. Aber mal von vorn…
Eigentlich steht der aus dem englischen Sprachgebrauch übernommene Ausdruck „Training“ für Übung, Schulung, Lehrgang, Weiterbildung oder Fortbildung auch allgemein angewendet (englisch to train someone = jemanden erziehen, schulen). Also genau das, was wir, vereinfacht gesagt, machen.
In Deutschland allerdings ist der Begriff „Training“ unterschwellig mit einer Art „Drill“ verknüpft. Hier versteht man unter „Training“ eher einen immer wiederkehrenden, stumpf ablaufenden, mitunter unangenehmen Vorgang, der einen, nach genügend vielen Trainingseinheiten, zu unreflektiertem Automatismus befähigt:
Der Fußballspieler trainiert das Elfmeterschießen, indem er immer und immer wieder den Ball von dem Elfmeterpunkt in Richtung Tor drischt, bis er ein „Gefühl“ für diesen Vorgang erlangt, das ihm einen automatisierten Ablauf ermöglicht. Der Bodytrainer stemmt immer und immer wieder in gleicher Weise sich steigernde Gewichte, um gedankenlos den Muskelaufbau zu fördern und die Leistung der Muskulatur zu steigern. Der Vortragende geht immer und immer wieder seinen Redetext durch, um den späteren Vortrag scheinbar locker und ohne Nachzudenken abrufen zu können.
Genau das ist es aber nicht, was man beim Training eines dyskalkulen Kindes erreichen möchte. Es sollen nicht stumpf immer und immer wieder Rechenregeln und Algorithmen eingepaukt werde, die später ohne Nachzudenken zur Erzeugung eines Resultats abgerufen werden können. Es soll nicht der Denkvorgang ausgeschaltet werden, um automatisiert zu agieren. Im Gegenteil: Denken und Verstehen stehen an erster Stelle. Nur was man zunächst verstanden hat, kann man in der Mathematik später auch trainieren. Das Training, nach deutscher Begrifflichkeit, ist hier der Part, der erst nach dem langwährenden erneuten Aufbau des Mathematikverständnisses folgen kann. Ich nenne es lieber „Automatisierung“.
Dieses deutsche Fehlinterpretation des Begriffes „Training“ wird von vielen, wenn nicht von allen konkurrierenden Einrichtungen, die sich die „Therapie“ auf die Fahne geschrieben haben, genutzt, um ihre Kollegen, die sich Dyskalkulie-Trainer nennen, zu diskreditieren: „Der macht nur Training und versucht, dass die Kinder Mathematik auswendig lernen“, heißt es, „Wir aber machen Therapie und bauen Geist und Seele des Kindes auf“. Dass wir angeblich nicht dasselbe im Schilde führen, leiten sie alleine aus der Begrifflichkeit ab und das, in erschreckender Weise nachvollziehbar für die sich informierenden Eltern, die sich dann lieber einem „Therapeuten“, als einem „Trainer“ zuwenden.
„Therapeut“ klingt ja so viel besser und ehrfürchtiger. Die Kinder allerdings assoziieren tatsächlich etwas medizinisch/psychologisches mit dem Begriff und ich kenne kein Kind, das stolz sagt: ”Ich gehe jetzt zu meinem Mathetherapeuten!“. Die meisten Kinder, die zu mir kommen, nennen mich „den Mathetrainer“, obwohl sich der Begriff „mathescout“ seit meiner YouTube-Videoserie „Mathe von NULL an“ immer mehr etabliert.
Ist der Begriff „Therapeut“ denn in unserem Fall überhaupt gerechtfertigt? Ich denke ja.
Laut Wikipedia bezeichnet Therapie (altgriechisch θεραπεία therapeia „Dienst, Pflege, Heilung, Behandlung“, von θεραπεύειν therapeuein „heilen, dienen“) alle Maßnahmen, die darauf abzielen, … seelische Traumata positiv zu beeinflussen. Die Voraussetzung für Therapie ist eine zuvor erlangte Diagnose. Ziel eines Therapeuten ist es … zumindest die Symptome zu lindern oder zu beseitigen und die psychischen Funktionen wiederherzustellen.
Die meisten Kinder, die eine Dyskalkulie aufweisen, befinden sich in einem psychisch unausgeglichenem Zustand. Schulangst, Versagensängste, Suizidgedanken, soziale Absonderung sind nicht selten bei den Probanden anzutreffen und können tatsächlich durch lerntherapeutische Methoden gelindert oder gar beseitigt werden. Also warum sich nicht Therapeut nennen? Natürlich: Die gesetzlichen Vorgaben…
Ich persönlich habe in Deutschland die freie Wahl und drehe mich da, wie eine Fahne im Wind. Therapeut, Trainer, Scout … je nach Situation und was erlaubt ist. Und ich habe dabei kein schlechtes Gewissen.
Frank Haub (diplomierter Dyskalkulietrainer des EÖDL)